Er versuchte sich beständig Verwegenes zu erkaufen. Er gab Bibliotheksbücher nicht zurück, gab vor, sie verloren zu haben, wusste, dass es genügte, der Bibliothek ein neues Exemplar zu bringen und nahm das gern in kauf. Er besaß lieber in Klarsichtklebefolie eingemachte, speckige und mit Fett-, Kaffee und anderen Flecken versehene Bücher mit Bibliotheksidentität, als jungfräuliche, selbst erstandene. Er lieh sich Bücher aus, bestellte sie sodann bei seiner Lieblingsbuchhandlung, holte sie ab und brachte sie direkt zur Stadtbücherei seines Vertrauens. Er war ein Kauz aber kein Troll. Das Internet hatte er noch nicht für sich entdeckt. Seine Welt war eine alte. Seine Welt war mehr Bibliotheksausweis als W-LAN, mehr Frack als Jeansjacke. Er hatte einen Schneider, kein Lieblingslabe. Bei seinem Schneider fühlte er sich in sicheren Hemden. Aber er konnte auch anzüglich sein: Mit Wams, Halskrause, Melonenhose und Stulpstiefeln, mit Posamenten (applizierte Schmuckelemente wie Kordeln und Webbänder), gepuderter Haarbeutelperücke, Kniebundhose und Rockschößen, mit Vatermörder (steifer, vorne offener Stehkragen), Volants (Ärmelbesatz) und Pumphosen. Auf die Gretchenfrage antwortete er mit: „Tantrismus & Brustwarzenbuddhismus.“ Aufregen konnte er sich über Alltagsdinge: „Und die Serviettenständer sind immer so prallvoll, dass man nie problemlos eine Serviette rausziehen kann. Entweder man reißt sich Stücke oder ganze Stapel raus. Ändert das!“ Andererseits aber konnte er sich über kleine Nettigkeiten auch ehrlich freuen. „Am Nachtkästchen Peti-Point-Stickereien und auf dem Kissen eine Lavendelsäckchen-Herzlichkeit mit in die Masche eingebundenem Sleep-Spray. Das hat wer an alles gedacht. Da mussten keine Schafe mehr gezählt werden. Da entschlummerte ich zufrieden bis über beide Ohren und der Rest steckte unter der wohlig-warmen Bettdecke.“ Wenn er sich was gönnen wollte, verbrachte er eine Nacht im Hotel, am liebsten in einem Hotel in der Nähe seines Hauses. Er war ein unauffälliger Gast, der gut Trinkgeld gab. Er liebte die Neue Sachlichkeit in der Kunst und in der Architektur. In der Literatur war er wählerischer und aus der Natur bezog er all seine Energie. Er saugte Regen und Sonnenschein förmlich auf, genoss Nebel und Wind, Schneefall und Hagel ließen ihn aufblühen und kaum denkbar, was wohl passierte, wenn ihn dereinst ein Blitz träfe.
Rohrköhlauer #32, am 11. November 2017